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Am 24. Januar 2020 fand in München die Verleihung des Roland Berger Preises für Menschenwürde 2019 statt. Preisträger waren der Verein ichbinhier e.V. und ihr Gründer Hannes Ley. Hier spricht Ley über Strategien gegen Hassrede und Fake News im Netz und über Social-Media-Trainings für Jugendliche. 

Was genau macht ichbinhier?

ichbinhier ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die die Diskussionskultur in den Kommentarspalten von Facebook verbessern will. Dazu schauen wir uns an, wo auf den Facebook-Seiten der großen Medien sehr viele Hasskommentare vorkommen. Dort gehen wir als Gruppe hinein und reagieren mit sachlichen Kommentaren. Wir versuchen die Kommentarspalte zu deeskalieren, empathisch auf Menschen einzugehen und in einen Dialog zu kommen.

Haben Sie Zahlen, wie viele Menschen Facebook aktuell nutzen?

In Deutschland sind es über 30 Millionen, weltweit sind es etwa zwei Milliarden. Diese Zahlen kommen von Facebook. Man kann davon ausgehen, dass es aufgrund gefälschter und doppelter Nutzerkonten in Wirklichkeit etwas weniger sind. Dennoch bleibt Facebook ein für die öffentliche Debatte höchst relevantes Medium.

Von Menschen unter 30 hört man: Facebook ist out. Instagram, Snapchat usw. sind angesagt.

In der Tendenz ist das richtig. Die Jungen nutzen Facebook eher passiv: Sie lesen dort, was ältere Familienmitglieder posten. Aktiv sind sie bei Instant-Messagern wie WhatsApp, Snapchat oder Telegram. Bei den Plattformen ist Tiktok gerade die am schnellsten wachsende. Youtube ist nach wie vor wichtig. Aber auch dort wird pausenlos kommentiert und kommuniziert.

Ein Facebook-Investor der Anfangsjahre, der auch Mentor von Mark Zuckerberg war, nennt die Plattform „eine Katastrophe und eine Gefahr für die Demokratie“. Wäre es nicht besser, sie zu boykottieren?

Leider ist es komplexer. Es gibt heute kein Dutzend Kanäle, die meinungsbildend ist, sondern es gibt Millionen von Kanälen. Das ist zunächst eine Demokratisierung des Informationsverhaltens. Die führt aber leider auch dazu, dass Menschen sich nur noch das bestätigen, was sie schon wissen oder zu wissen glauben. Es führt zu Unsicherheit und Fake News. Aber wie kommt es, dass Menschen so leichtgläubig sind? Dass sie Quellen nicht überprüfen und Verschwörungstheorien aufsitzen? Da muss vorher etwas falsch gelaufen sein. Ich meine: Die negativen Auswüchse der sozialen Medien sind eher Symptom als Ursache eines gesellschaftlichen Problems.

Muss man der Politik vorwerfen, dass sie die großen Player wie Google und Facebook nicht so reguliert, wie das bei den klassischen Medien der Fall ist?

Absolut! Es ist ein Armutszeugnis, dass die EU es bis heute nicht geschafft hat, diese Plattformen an die Kandare zu nehmen. Die ziehen sich auf das Argument zurück, dass sie nur das Medium zur Verfügung stellen und für die Inhalte nichts können. Da werden strafrechtlich relevante Inhalte nicht gelöscht, Urheber werden nicht verfolgt.

Die Anonymität des Internets fördert nicht die besten Seiten des Menschen zutage.

Die Anonymität ist ein wichtiger Punkt, erklärt aber nicht alles. Ich denke öfters an den Film „Fight Club“, in dem sich zivilisierte Stadtmenschen zu großen Schlägereien verabreden. Die haben sich den ganzen Tag gezügelt und Regeln unterworfen, sind frustriert und suchen am Abend das Archaische. Den Hasskommentaren im Netz merkt man an, wie frustriert die Leute sind; vom eigenen Leben, von den „Eliten‘, von was auch immer. Im Alltag gibt es dafür kein Ventil. Wer aus Frust auf der Straße jemanden zusammenschlägt, riskiert Strafverfolgung und Haftstrafe. Wer im Netz verbal auf andere einprügelt, bleibt fast immer unbehelligt.

Ein relativ junges Phänomen.

Nein, das hat Tradition. Die sozialen Medien sind zwar ein relativ junges Phänomen, Internet-Foren gibt es aber seit über 20 Jahren. Da schaukelt man sich gegenseitig hoch, da werden Grenzüberschreitungen zelebriert. Wenn Grenzüberschreitungen folgenlos bleiben, setzt sich die Enthemmung fest. Was gestern noch „off limits“ war, scheint plötzlich ok.

Nochmal: Weshalb den sozialen Medien nicht einfach den Rücken kehren?

Wenn man sich aus den sozialen Medien zurückzieht, überlässt man das Feld denjenigen, die die Demokratie abschaffen wollen. Die sind dort nämlich hochaktiv. Einen so wichtigen Raum der Meinungsbildung zu verlassen, halte ich für grob fahrlässig. Das erinnert mich an die verhängnisvolle Epoche, in der man glaubte, der NSDAP die Parlamente ein bisschen überlassen zu können. Bis mit dem Ermächtigungsgesetz das Ende der Weimarer Republik erreicht war. Es ist wichtig, dass wir mit Regeln wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz bußgeldbewehrte Grenzen setzen. Das geschieht aktuell, da wurde gelernt, und es wird sich noch einiges ändern.

Aber?

80 bis 90 Prozent der Hassrede im Netz sind strafrechtlich nicht greifbar. Es gibt einen subtilen Faschismus und Rassismus, der gerade Hochkonjunktur hat.

Können Sie Beispiele nennen?

Ich habe vor Kurzem mit der Witwe und den beiden Söhnen von Walter Lübcke zusammengesessen und der Familie gezeigt, was im Netz kursiert. Da gibt es eine Menge freudiger Smileys, als Kommentar auf den Mord. Dagegen kann man strafrechtlich nicht vorgehen. Es gibt keinen Straftatbestand „Freude über den Tod eines Demokraten“. Den wird es in einem Rechtsstaat auch nie geben. Das ist ein Riesenproblem: die Verrohung der Zivilgesellschaft, der Ruf nach Selbstjustiz. Und dass es keinen Widerspruch gibt. Man ist in diesen Kommentarspalten „unter sich“.

Widerspruch kommt zum Beispiel von

ichbinhier!

ichbinhier mit seinen Aktivistinnen und Aktivisten kann die Diskussionskultur im Netz natürlich nicht maßgeblich beeinflussen. Es braucht ein Bewusstsein von vielen, dort Flagge zu zeigen, wo die Standards des zivilisierten Miteinanders unterschritten werden. Sich befremdet und angeekelt wegzudrehen, reicht nicht aus.

Zu diesem Zweck veranstaltet Ihr Verein „Bootcamps“. Das sind Schulungen, wie man im Netz fair agiert. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir sprechen über Meinungsfreiheit und was passiert, wenn Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Wir reden darüber, was man tun muss, damit Sprache nicht in physische Gewalt ausartet und wie eine Hass-Dynamik früh gestoppt wird. Da geht es auch um Solidarität: Wie springe ich einem Menschen bei, der im Netz bedroht wird?

Das geschieht in einer Art Simulation?

Wir schaffen eine Simulationsumgebung und posten einen Beitrag, der „das Feuer entfachen“ soll. Beispiel: Ein syrischer Flüchtling hat eine Deutsche vergewaltigt. Dann verteilen wir unter den Teilnehmern Rollen: Da gibt es den Sachlichen, der aber kritisch gegenüber der aktuellen Flüchtlingspolitik ist. Dann gibt es den Rechtsextremisten, der sich über den Vorfall mehr oder weniger „freut“, den Liberalen, der die Grenzen offenhalten will, den „Seenotretter“ pro Asyl und so weiter. Dann lässt man es laufen. Bei 20 Teilnehmern hat man in 20 Minuten leicht 100 Kommentare. Es entwickelt sich eine Dynamik. Wichtig ist, dass die Teilnehmer anonym posten und sich nur auf ihr Gerät konzentrieren. Es finden keine Face-to-Face Kontakte statt.

Und das Ergebnis?

Viele Teilnehmer sind über ihr eigenes Verhalten schockiert. Wir schauen uns die Posts an und überlegen, was passiert ist. Manche geben zu, dass sie es genossen haben, einmal so richtig vom Leder zu ziehen. Selbst wenn die zugewiesene Rolle gar nicht ihrer eigenen Meinung entspricht. Im zweiten Durchgang, diesmal mit Moderation, reflektieren wir diese Dynamik und versuchen, eine lebendige Debatte ohne Aussetzer zu führen. Sich den Spiegel vorzuhalten, ist auch beim Thema Facebook sehr lehrreich.