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Lesen! Ein Interview über die fliegenden Teppiche der Fantasie


Wenn es um Lese- und Schreibförderung bei Kindern und Jugendlichen geht, dann gibt es eine Expertin, die man fragen muss: Gitta Gritzmann, Germanistin und Vorsitzende des Vereins „Kinder lesen und schreiben für Kinder e. V.“. Seit Langem begleitet sie die Stipendiaten des Deutschen Schülerstipendiums in spannenden Schreibwerkstätten, in denen die Stipendiaten schon mal mit Pfeife und Sherlock Holmes- Kappe am Schreibtisch sitzen und ihre Krimis zu Papier bringen.

Kindle, iPad oder das klassische Buch: Wie lesen Sie am liebsten? 
Kindle und iPad sind natürlich sehr praktisch, nicht nur auf Reisen. Digitale Medien verwende ich zuhause aber hauptsächlich für die Arbeit. In Mußestunden hingegen geht nichts über das Lesen eines schönen Buches in einem bequemen Sessel.

Als Vorsitzende des Münchner Vereins „Kinder lesen und schreiben für Kinder e. V.“ haben Sie eine große Expertise in der Leseförderung von Kindern und Jugendlichen. Es gibt das schöne Zitat des amerikanischen Schriftstellers James Daniel: „Bücher sind wie fliegende Teppiche ins Reich der Fantasie“. Wie gelingt es, Kinder für Literatur zu begeistern?
Mein Herzensanliegen ist es, bei Kindern und Jugendlichen vor allem Freude am Lesen und Schreiben zu wecken. Das ist gar nicht so schwierig, denn Kinder sind begeistert, selbst auf Entdeckungsreisen zu gehen. Bücher sind ja Portale in andere Welten, in denen es un- endlich viel zu entdecken gibt. Kinder und Jugendliche lieben es, imaginäre Welten zu betreten, die nur in ihren Köpfen existieren, angeregt durch das, was sie lesen, aber doch ganz einzigartig durch ihre Lebenswirklichkeit geprägt.

Sie führen aber auch Schreibwerkstätten durch, um die Kinder und Jugendlichen selbst ans kreative Schreiben heranzuführen.
Um Kinder und Jugendliche selbst zum Schreiben zu motivieren, müssen sich die Themen zu allererst an ihren Interessen und Bedürfnissen orientieren. Fantasie- oder Kriminalgeschichten faszinieren aber fast alle. Sie erlauben den kleinen Schriftstellern in „wohliger Distanz“ viel von sich selbst, ihren Problemen und Ängsten, aber auch ihrer Freude und Lebenslust einzubringen und dabei bewusst oder unbewusst zu reflektieren. Nebenbei werden die Kinder und Jugendlichen ermutigt, selbst zu recherchieren: War eigentlich schon alles erfunden, was in einer Geschichte über Ritter im Mittelalter vorkommen sollte? Welche Namen passen zu welchen Figuren? Wie kann man Geräusche und Gerüche mit Worten beschreiben? Und wie wirken eigentlich Arsen oder Blausäure, die Agatha Christie häufig als Tatwerkzeuge einsetzt?
Natürlich spielt auch der Schreibort und seine Möglichkeiten eine große Rolle. Auf unse- rer literarischen Spurensuche haben wir uns oftmals in historische Gebäude begeben, etwa ins Kriminalmuseum in Rothenburg ob der Tauber, Schloss Benrath bei Düsseldorf, ins E.T.A. Hoffmann Haus in Bamberg oder ins Goethehaus in Weimar. Die Architektur eines Gebäudes, Gänge und Gewölbe, das Knarzen von Treppenstufen und die Gerüche längst vergangener Zeiten regen die Fantasie mit allen Sinnen an, und wenn dann noch ein echter Kriminalkommissar von seinen Fällen berichtet, erwachen die Requisiten, Absperrbänder, Handschellen oder Blechgeschirr aus Alcatraz zu eigenem Leben. Im Deutschen Museum konnten Stipendiaten bei der Auseinandersetzung mit realen historischen Kriminalfällen sogar selbst – forensisch und unter fachkundiger Anleitung – ihre eigene DNA isolieren. Die Kinder und Jugendlichen entdecken sehr schnell die vielen faszinierenden Dimensionen, die mit einer guten Geschichte verbunden sind.

Welche Rolle spielt der Einsatz digitaler Medien beim Wecken der Lese- und Schreiblust?
Aktuell finden unsere Workshops natürlich sämtlich digital statt. Das klappt erstaunlich gut, auch wenn sich die verschiedenen Schreiborte nur virtuell besuchen lassen. Doch auch, wenn man nur auf das zweidimensionale Bild im Computer auf dem Küchentisch schaut, können magische Orte entstehen, an denen Fakten und Fiktion fantasievolle Verbindungen eingehen. Aber auch ohne Corona spielen digitale Medien eine wichtige Rolle. Während Erich Kästner als Kind alles gelesen hat, was ihm zwischen die Finger kam, selbst Gebrauchsanleitungen oder Zeitungen, in die Salat eingewickelt war, sieht der vernetzte Alltag der Jugendlichen heute ganz anders aus. Tatsächlich findet durch die sozialen Medien die Kommunikation unterernander viel mehr schriftlich statt als etwa in meiner Jugend. Warum sollte man also nicht mal „Twitter-Gedichte“ oder „Whats- App-Texte“ besprechen oder schreiben? Das Internet ist darüber hinaus eine unschätzbare Quelle von Anregungen und Informationen. Für die Lese- und Schreibworkshops stelle ich jeweils genrebezogene „Medienkisten“ zusammen, mit vielen Requisiten für die Recherche zu den jeweiligen Geschichten. Hierzu gehören (bei Präsenzformaten) alte Landkarten, kurze Reiseberichte, Flakons mit verschiedenen Düften oder – besonders beliebt bei den Jüngeren – ein Giftring mit einer verborgenen Kammer. Hat die Fantasie erst einmal eine Spur aufgenommen, so möchten die Kinder und Jugendlichen oft mehr wissen und recherchieren selbst im Internet. Wo genau liegt das alte schottische Herrenhaus? Bietet seine Umgebung genügend Möglichkeiten, sich zu verstecken? Wo genau ist eigentlich Transsylvanien, und wie kommt man dahin? Es sind viele kleine Dinge, die eine Geschichte erst überzeugend machen. In den Schreibwerkstätten lesen die Kinder und Jugendlichen ihre ersten Ideen und später ihre fertigen Texte in der Gruppe vor. Lesen wird über das eigene Schreiben zugänglich und umgekehrt.

Sie haben unseren Lesewettbewerb für Grundschüler der Roland Berger Stiftung eng begleitet. Der Sieger ist der siebenjährige Luis. Ein Junge, doch ungewöhnlich, oder? Sind die Jungs nicht mehr die klassischen Lesemuffel? Wie sind Ihre Erfahrungen? 
Luis ist ganz offensichtlich ein begeisterter Vielleser. Ich habe aber auch unter den anderen Stipendiaten viele Jungen als Leseratten erlebt. Sie interessieren sich besonders für Kriminal- und Heldengeschichten oder Science-Fiction und Fantasy-Abenteuer. Meine Erfahrung ist eindeutig: Wenn man sie in geeigneter Weise heranführt, sind Jungen genauso leicht für Lesen und Schreiben zu begeistern wie Mädchen – aber man muss das „schlum- mernde Interesse“ manchmal erst gezielt wecken.

Neben Jungen sind laut PISA Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien sowie mit Migrationshintergrund die „Sorgenkinder“ in puncto Lesekompetenz. Was muss passieren, um diese Schüler besser zu fördern?
Lesen ist ein universeller Schlüssel für die Türen unserer Gesellschaft, zu Bildung und Teilhabe. Lesen eröffnet neue Welten und hilft die unsere zu verstehen. Um Lesekompetenz zu fördern, muss man Freude am Lesen wecken. Das geht auf fast jedem Sprachniveau, wenn die Texte interessant sind und „passen“. Geschichten dürfen Kinder und Jugendliche ruhig fordern, um ihre sprachliche Kompetenz zu fördern; sie dürfen sie aber nicht überfordern. Um den spielerisch kreativen Zugang zu unterstützen, setze ich gerne auch Lückentexte oder Texte zum Weiterschreiben ein, individuell auf die Sprachebene der Kinder und Jugendlichen und ihr Lebensumfeld angepasst, und wähle Themen, an denen sie Freude haben und sich kompetent fühlen. Natürlich müssen schwierige Begriffe geklärt und Verständnisfragen beantwortet werden. Die Geschichten müssen aber unbedingt originell, lustig oder spannend sein, um die Kinder und Jugendlichen „abzuholen“ und Lust auf Lesen zu wecken. Dabei sollten durchaus auch Bücher aus dem kulturellen Umfeld der Kinder mit einbezogen werden.

Im Deutschen Schülerstipendium begleiten ehrenamtliche Mentoren die Stipendiaten. Haben Sie Ideen und Tipps, wie Mentoren ihre Mentees fürs Lesen und Schreiben motivieren können?
Das kann individuell ganz unterschiedlich sein. Mentoren könnten Bücher empfehlen, die für sie selbst eine besondere Bedeutung haben. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten könnten aber auch umgekehrt Bücher aussuchen, die ihre Mentoren und sie gemeinsam lesen. Man kann etwa nach jedem Kapitel gemeinsam spekulieren, wie es wohl weitergeht. Oder: „Welche Fragen würde ich gerne dem Autor stellen?“ Natürlich könnte man sich bei verfilmten Romanen nach dem Lesen auch den Film zum Buch gemeinsam ansehen. Aber Vorsicht: Oft ist die Enttäuschung nachher groß, weil das Buch den Film deutlich „schlägt“. Schräge und lustige Geschichten zu bestimmten Themen zu sammeln, macht den meisten Stipendiatinnen und Stipendiaten ebenfalls viel Spaß.

Sie arbeiten seit 2013 mit Stipendiaten im Deutschen Schülerstipendium in Schreibwerkstätten oder Bücherclubs zusammen. Was war Ihr schönstes Erlebnis?
Am schönsten ist es, zu sehen, wie schnell sich die Einstellung der Kinder und Jugendlichen zum Lesen und Schreiben ändert, welche Entwicklungen sie machen und wie sich ihr Potenzial entfaltet. Im letzten digitalen Ferienworkshop hat ein Stipendiat, der bisher freiwillig noch keine einzige Geschichte geschrieben hatte, plötzlich seine Begeisterung für das kreative Schreiben entdeckt und gleich mehrere Geschichten verfasst. Er war ganz überrascht und sichtlich stolz, dass er „ja doch schreiben könne“. Eine Stipendiatin sagte ganz enthusiastisch: „Ich kann gar nicht mehr aufhören zu schreiben.“ Es sind viele solcher Erlebnisse, die mich antreiben. Das sind berührende, aber auch nachdenk- liche Momente, weil klar wird, wie begierig Kinder und Jugendliche Anregungen aufnehmen, welches Potenzial in ihnen schlummert, welche Entwicklungen möglich sind.

Und zum Schluss: Welches Buch lesen Sie gerade?
Zur Vorbereitung unseres neu ins Leben gerufenen Buchclubs lese ich gerade die Knesebeck-Ausgabe von „Oliver Twist“. Mit ihren faszinierenden Illustrationen entführt sie die Leser unmittelbar ins London des 19. Jahrhunderts. Der Vergleich mit anderen Übersetzungen ist ausgesprochen aufschlussreich. Für die Gruppe der Jüngeren ist das Abenteuerbuch „Die Mississippi-Bande“ von Davide Morosinotto vorgesehen.
„Privat“ habe ich gerade mit dem spannenden und psychologisch hintergründigen Buch „Ein makelloser Tod“ von P.D. James begonnen.

 

Gitta Gritzmann studierte Germanistik und Theologie in Siegen und Marburg, an der University of Washington in Seattle legte sie den Master of Arts ab. Neben jour- nalistischen Tätigkeiten widmete sich Gritzmann vor allem der Förderung von Kindern und Jugendlichen, seit 2004 leitete sie mehr als 450 Schreibwerkstätten zu den Themen Krimi, Science-Fiction, Klimaschutz sowie Reise- und Gespenster-/Vampirgeschichten. 2007 gründete sie den Verein „Kinder lesen und schreiben für Kinder e.V.“, deren 1. Vorsitzende sie ist. Ziel des Vereins ist vor allem die Förderung der Lese-, Schreib- und Sozialkompetenz von Kindern und Jugendlichen. Gitta Gritzmann erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen.

Was wird eigentlich aus den vielen Geschichten, Gedichten, Zeichnungen, Fotos, die unsere Stipendiaten im Lauf der Jahre in Wochenendseminaren und Ferienakademien angefertigt haben? Es ist Zeit, daraus einmal einen Band zu machen, ein Werkbuch, das den Bogen spannt über verschiedene Lernbereiche und die gemeinsam erlebte Zeit. Und vielleicht trägt die Coronakrise dazu bei, dass manch einer mehr Zeit hat, darin zu blättern, sich zu erinnern und sich anregen zu lassen.

Gitta Gritzmann hat die schönsten und interessantesten Texte ausgesucht. Unser Anspruch dabei ist nicht große Literatur, wohl aber jede Menge Fantasie, Kreativität, Sich-Ausprobieren und neue Seiten an sich selbst entdecken.
Es soll ein schönes Buch werden, das man gerne anschaut und darin blättert. An der einen oder anderen Stelle soll sich der Betrachter “festlesen” oder “festschauen“ und in seiner Fantasie den Faden weiter spinnen. Unsere jungen Autoren, Zeichner, Maler, Poeten und Fotografen wünschen viel Freude an unserem Werkbuch!

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