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Über das viktorianische England, einen sturen Kater
und weitere Probleme …

Ein kaum hörbares Klicken war zu hören, als sie die Verschlüsse öffnete und den Kofferdeckel anhob. Doch Elaine kam gar nicht dazu, sich den Inhalt genauer anzusehen – in dem Moment, in dem sich das Behältnis einen Spalt breit öffnete, schien die Welt um sie herum in atemberaubendem Tempo zu vibrieren. Es war, als sähe sie die Welt plötzlich in einem 3D-Film, ohne allerdings eine zugehörige Brille zu tragen. Farben und Silhouetten verschoben sich, um wieder ein Ganzes zu ergeben. Übelkeit kroch ihre Kehle hinauf und sie musste sich anstrengen, um sich nicht zu übergeben. Schließlich blieb ihre Umgebung wieder stehen – nur ein paar Sekunden länger und Elaine hätte ihre Selbstbeherrschung über Bord geworfen. Sie blinzelte kurz. Die Sonne kam ihr auf einmal viel heller vorund diese ohrenbetäubende Lautstärke … instinktiv hielt sie sich die Ohren zu.

Sie saß immer noch im Schneidersitz auf dem Boden, Lancelot – dieser faule Kater – auf ihrem Schoß und den Koffer auf ihren Knien. Aber das war es auch schon an Gemeinsamkeiten zu dem Dachboden, auf dem sie den Koffer gefunden hatte. Kein zerfetzter Sessel, keine Holzdielen, keine alte Kommode. Stattdessen Kopfsteinpflaster, stickige, mit Ruß gefüllte Luft und tausende Stimmen, die sich schwatzend und murmelnd um sie herum ausbreiteten wie eine Welle an Eindrücken.
„Was trägst du denn da für komische Sachen? Die sehen lustig aus.“
Sie schaute auf. Ein kleiner Junge mit brauner Weste, gestreiftem Hemd und Staub auf den Wangen standvor ihr, das dunkle Haar zerzaust und die blauen Augen von mattem, neugierigem Leuchten. Eine Art Lederkappe hing schief auf seinem Kopf und verdeckte die Hälfte seines rechten Auges.
Elaine lächelte nervös, klappte den Koffer wieder zu – ohne einen Blick hinein zu werfen –, hob das Gepäckstück zusammen mit Lancelot hoch und stand auf. Der Junge grinste nun schief, wenn auch etwas schüchtern.
„Du siehst aus, als bräuchtest du neue Kleidung. Wo hast du die her? Von Jones? Vater sagt, der ist ein Taugenichts. Aber Mutter kauft trotzdem bei ihm ein. Darf ich die Katze mal streicheln?“, brach ein Redeschwall über Elaine herein. Überwältigt nickte sie nur kurz und der Jungestreckte seine Hand nach Lancelot aus. Der Kater fauchte.
„Tut mir leid, er ist Fremden gegenüber nicht sonderlich zutraulich. Ich … Irgendwie bin ich gerade nicht ganz bei mir … Wo bin ich?“, fragte sie, merkte allerdings, dass diese Frage nicht sonderlich klug war. Ein Hauch von Angst hatte sich in die Gesichtszüge des Jungen geschlichen. „Du bist aber nicht aus dem bösen Haus da hinten, oder?“ Der Junge zeigte auf ein Haus weiter hinten, umzäunt von hohen Gittern. „Da bringen sie immer die hin, die komisch sind. Aber die sind meistens gruseliger als du.“
Sie schluckte ängstlich. Dieser Klotz von einem Gebäude dort sah aus wie eine Irrenanstalt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wenn sie so darüber nachdachte, sah hier alles aus wie aus dem neunzehnten Jahrhundert – die Kleidung der Menschen, die Straße, die Gebäude, einfach jedes noch so kleines Detail.
„Welches Datum haben wir?“, hakte sie nun nach. Instinktiv machte sie sich bereit, die Beine in die Hand zu nehmen, sollte der Junge doch noch beschließen, dass er Elaine gruselig fand. Er sah sie immer argwöhnischer an. „London, 22. Oktober ’73.“
„1873?“, fragte sie mit etwas höherer Stimme, als sie es gewohnt war.

„Natürlich 1873. Wann denn sonst? Du bist wirklich ein schräger Vogel“, stellte der Junge fest. „Ich bin übrigens Thomas Foster.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie immer noch verwirrt von den plötzlichen Geschehnissen schüttelte. Ehe sie ihm ihren Namen nennen konnte, ertönte eine autoritäre Frauenstimme. „Thomas, komm sofort her! Wir reisen ab! Und ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht mit Fremden sprechen, besonders nicht mit der artigenKindern“, sie schenkte Elaine einen berechnenden Blick.
Thomas zuckte mit den Schultern, winkte ihr kurz zu und verschwand dann in der Menge.

Elaine seufzte und nahm auf einer Bank hinter ihr Platz. Den Koffer legte sie neben sich ab, während sie miteiner Hand Lancelot an seinem Platz auf ihrem Schoß hielt. Leise kläglich maunzend sah er zu ihr hoch, als wolle er sie bitten, wieder nach Hause zu gehen. Das Getümmel war ihm ganz und gar nicht geheuer. Zum Glück schien niemand sie zu beachten, sodass sie die Umgebung etwas genauer studieren konnte. Dampflokomotiven bliesen weißen Rauch in die Luft, Frauen in voluminösen Röcken eilten über den Gehweg, oft mit Kindern an der Hand. Männer in Anzügen und Westen hatten ihren Zylinder sich ins Gesicht gezogen und hasteten mit Blick auf den Boden gerichtet von Lok zu Lok.

Hatte Elaine wirklich eine Zeitreise gemacht? Nur wie?
Ihr Blick fiel auf den Koffer. An ihm musste es gelegen haben; nachdem sie den Koffer geöffnet hatte, warsie hier gelandet. Ihr kam eine Idee – wenn sie den Koffer wieder öffnen würde, sollte sie doch eigentlich wieder zurück ins Jahr 2019 gelangen. Langsam klappte sie den Deckel auf in der Erwartung, jeden Moment wieder zurück auf den Dachboden katapultiert zu werden. Doch nichts geschah.
Stattdessen richteten ihre Augen sich auf den Inhalt des Koffers – eine alte Polaroid-Kamera und eine Art Halsband mit einem leuchtend blauen, hellen Edelstein in der Mitte, eingefasst von silbernen Ranken und vier weißen, winzigen Kristallen, auf jeder Seite des großen Edelsteins zwei. Das Band selbst war in einemdem Edelstein ähnlichen Blauton angefertigt, allerdings matter und unauffälliger.
Alles in allem sah es aus wie das Schmuckstück einer adligen Dame, nicht wie das einer 22- jährigen Germanistikstudentin, die sich als Kellnerin durch das Studium schlug. Aber auch die Sofortbildkamera sah aus wie etwas, das nicht zu ihr gehörte – viel zu altmodisch, aber in dieser Zeit wäre das Ding vermutlich sogar noch zu modern. Andererseits, sie kannte sich mit Geschichte nicht wirklich aus. Funktionierte die Kamera überhaupt? Nachdenklich schaltete sie das Gerät an und richtete die Linse auf eine der Dampfloks. Vorsichtig drückte sie den Auslöser, nur um dann einen Freudenschrei zu unterdrücken. Eine Fotografie war an der Seite des Apparats herausgekommen, noch dazu in Farbe. Breit lächelnd steckte sie das Bild
in eine Tasche an der Deckelinnenseite des Koffers – es sah so aus, als hätte sie nun wenigstens ein Andenken an diese seltsame Reise. Sollte sie es also zurückschaffen, könnte sie sich ganz einfach selbstbeweisen, dass das Ganze kein Traum war.

Doch was war mit dem Halsband? Sie musste zugeben, es war wirklich schön, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es ohne Grund im Koffer lag. Allerdings fiel ihr kein einziger Grund ein, weswegen sie ein unverschämt teures Halsband brauchen könnte.

Plötzlich wurden Rufe hinter ihr laut. Drei Männer, gekleidet in Schwarz und mit tief ins Gesicht gezogenen, flachen Hüten. Ihre schwarzen Handschuhe glänzten beängstigend im Sonnenlicht, und vor ihnen teilte sich die Menge der plaudernden und schwatzenden Menschen, als hätten sie Sorge, zu sehrdie Aufmerksamkeit dieser unheimlichen Gestalten auf sich zu ziehen.
Einer der drei zeigte auf Elaine, und die Gruppe beschleunigte ihre Schritte genau in ihre Richtung.
Mit einem Satz hatte Elaine den Koffer zusammengeklappt, sich Lancelot geschnappt und war losgerannt. Irgendetwas sagte ihr – oder besser: schrie ihr zu – dass diese Männer etwas damit zu tun hatten, dass dashier ganz sicher nicht 2019 war, und vermutlich nicht sonderlich begeistert von dem Störenfried in ihrer Zeitwaren.
Sie hastete durch die Reihen von Menschen, mit der ständigen Sorge, dass gleich jemand ihren Weg versperren oder sie sonst irgendwie aufhalten könnte, so dass man sie erwischen würde. Das Adrenalin strömte pfeilschnell durch ihre Adern und ließ den schneidenden Wind wie eine laue Brise wirken, verwandelte die Erschöpfung in weitere Energie und trug sie weiter die Straße entlang.
Zum Glück schien man in diesem Jahr noch keine Pistolen zu benutzen – zumindest nicht außerhalb der Armee. Andernfalls hätte sie jetzt ein noch ernsthafteres Problem als ohnehin schon.
Sie bog wieder ab. Die Straße sah furchtbar aus. Von Ruß bedeckte Gestalten kauerten in den Gassen, zu ihren Füßen lagen Abfälle jeder Art. Die Armut war ihnen ins Gesicht geschrieben, während über die Bordsteine Damen in Kleidern stolzierten, deren Umfang vielleicht das Dreifache ihres Körpers betrug. Verziert mit Schleifen, Schlaufen und Spitze, auf ihren Köpfen ein Hut, der ebenfalls gigantische Ausmaßehatte. Elaine hätte gern kurz innegehalten, um ein Foto dieser abstrusen, paradoxen Situation zu schießen, doch die Stimmen hinter ihr wurden wieder lauter und sie stürmte weiter. Ihre linke Seite schmerzte und ihre Füße schienen plötzlich einer ungewöhnlich starken Erdanziehungskraft zu unterliegen, doch sie schleppte sich tapfer weiter. Das Fellbündel, das sich meckernd und kratzend auf ihrem Armwand, war nicht gerade eine große Hilfe, genauso wenig wie der gefühlt zentnerschwere Koffer, den siemit sich herumtrug.
Schließlich hatte sie das Gefühl, kurz innehalten zu können. Warum jagten diese Leute sie? Hatte es etwas mit ihrer plötzlichen Zeitreise zu tun? Die Fragen spukten ohne Antworten in ihren Gedanken herum wie Gespenster, ohne Halt an der Realität. War denn das, was sie hier gerade erlebte, überhaupt real oder doch nur ein Traum? 
Einer plötzlichen Eingebung folgend kniete sie sich auf den Boden, öffnete den Koffer unter leisem Fauchen von Lancelot und nahm das Halsband heraus. Hinter ihr ertönten die Rufe ihrer Jäger.

Zögernd legte sie sich den Schmuck um, dann begann die Welt ins Wanken zu geraten.

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